III. Kapitel: Außergewöhnliche Kräfte (Vibhuti Pada)

Inhaltsverzeichniss

3.1 – 3  Dharana, Dhyana, Samadhi

3.4 – 6  Samyama – die innere Sammlung

3.7 – 8  Ashtanga führt nach Innen

3.9 – 15  Den subtilen Wandel wahrnehmen

3.16 – 18   Subtiles Samyama

3.19 – 20   Siddhis (Superkräfte): Gedanken lesen

3.21 – 23   Siddhis: Unsichtbarkeit & Karma

3.24 – 26   Siddhis: Liebe, Kraft & Wissen

3.27 – 29   Siddhis: Planetenkräfte

3.30 – 35   Siddhis: Körperzentren

3.36 – 38   Konstante Ausrichtung führt zum Ziel

3.39 – 42   Siddhis: Astralreisen, Pranavayu & Hören

3.43 – 47   Siddhis & Mahasiddhis

3.48 – 49   Siddhis: Die Sinne beherrschen

3.50 – 52   Entsagung und Freiheit

3.53 – 56   Achtsamkeit und Freiheit

Yoga Sutra 3.1-3 – Dharana, Dhyana, Samadhi

3.1. „Konzentration ist, wenn das Geistfeld auf einen Punkt zentriert ist.“ oder „Dharana ist das Fixieren des Geistes auf ein einzelnes Objekt.“

3.2. „Wenn die Achtsamkeit stetig fliesst, geschieht Meditation.“

Wenn die Konzentration des Geistes stetig und mühelos ist, versinkt man in den Zustand der Meditation. Tatsächlich ist der Begriff „Meditation“ unklar, weil damit Verschiedenes gemeint sein kann, z.B. die Übung der inneren Konzentration, ein Zustand der inneren Stille oder das Nachsinnen über philosophische Aussagen.

3.3. „Die Bewußtheit von Subjekt und Objekt verschwindet bei Erfahren des Überbewussten in der Leere.“ oder „Wenn das Wesen sich ganz in dem Betrachteten auflöst, geschieht die Vereinigung.“

In Dhyana gibt es immer noch einen Wahrnehmenden, der das Wahrgenommene wahrnimmt. In Samadhi löst sich diese Dreiheit schrittweise auf. Wenn der Meditierende tief in Meditation versinkt und er mit dem Objekt verschmilzt, löst sich die Erfahrung des Sehenden in ekstatischer Stille auf und es ist nur noch das Objekt der Betrachtung (z.B. das Mantra) da.

Yoga Sutra 3.4-6 – Samyama - Die innere Sammlung

Nachdem Patanjali zum Beginn des 3. Kapitels die drei letzten Glieder des Ashtanga erläutet hat, bringt er diese nun zusammen unter dem Begriff „Samyama“. Also die drei Begriffe Dharana, Dhyana und Samadhi sind als Stufen von Samyama zu verstehen. Je nachdem, wie weit man auf dem Weg des Raja Yoga fortgeschritten ist, wird die innere Sammlung tiefer und entsprechend die nächste Stufe erreicht. Man beginnt sozusagen mit Dharana, der inneren Konzentration auf ein Objekt, und geht dann über in den Zustand der Meditation bis zu Samadhi, wo dann das Objekt wahrgenommen wird ohne ein Subjekt.

3.4. „Die Dreiheit (Dharana, Dhyana, Samadhi) ist zusammen die Versenkung / Sammlung (Samyama).

3.5. „Wird dadurch Beherrschung (über das Objekt) erreicht, kommt das Licht der Weisheit.“ oder „Tiefe Einsicht ist das Ergebnis der Beherrschung dessen.“

Also wenn wir unseren Geist meditativ auf das Objekt der Wahrnehmung ausrichten und nach und nach alles andere loslassen, können wir tiefe Einsichten bekommen, die mit dem Objekt verbunden sind.

3.6. „Dieses erfolgt stufenweise.“ oder „Die beschriebene Praxis verläuft in Schritten.“

Dharana: Die Ausrichtung des Geistes auf ein Objekt

Dhyana: Das automatische Strömen des Geistes zum Objekt

Samadhi: Das Verschmelzen mit dem Objekt und die Auflösung des Subjektes

Und so müssen die einzelnen Samyama-Methoden auch betrachtet werden. Je nachdem, ob man Dharana, Dhyana oder Samadhi übt, werden Erkenntnis und Erfahrung entsprechend tiefer.

Yoga Sutra 3.7-8 – Ashtanga führt nach innen

In diesen beiden Versen des Yogasutra beschreibt Patanjali den Weg nach innen und unterscheidet zwischen den ersten Stufen, die ganz im Äußeren liegen, und den höheren Stufen, die sich dann immer mehr nach innen wenden.

3.7. „Im Vergleich mit den ersten Stufen sind diese drei die inneren Glieder.“

Das Ashtanga ist ja sicherlich das bekannteste und wichtigste Modell aus dem Yogasutra. Es beschreibt den konkreten Weg des Raja Yoga. Zunächst werden Empfehlungen gegeben, die das alltägliche Leben betreffen, also eine Modifikation der äußeren Handlungen. Dann geht es immer weiter nach innen. Über die Körperhaltung, den Atem und die Sinne kommt Patanjali dann zu den zuvor genannten inneren Gliedern – Konzentration, Meditation und Überbewusstsein. Es wird also ein Weg nach innen beschrieben, auf dem man sich schrittweise mit dem Geist vom Äußeren abwendet, um im subtilen inneren Bereich des Seins Klarheit und schlummernde Kräfte zu finden.

3.8. „Auch dieses ist sogar ein äußeres Glied im Vergleich mit dem Samenlosen.“ oder „Jedoch sind sie im Gegensatz zum samenlosen Überbewusstsein immer noch äußere Stufen.“

Yoga Sutra 3.9-15 – Den subtilen Wandel wahrnehmen

In diesem Abschnitt der Verse 9-15 spricht Patanjali darüber, wie man durch Einpünktigkeit in höhere Bewusstseinsebenen eintauchen kann – also Dharana ist die Voraussetzung, um durch Dhyana zu Samadhi zu gelangen. Oder anders gesagt: Wenn wir fähig sind, unseren Geist ganz auf eine Sache bzw. einen Punkt auszurichten, können wir in den Zustand der Meditation hineinfallen und von dort aus sozusagen in Samadhi erhoben werden. Zu üben ist also das klare Ausrichten des Geistes auf Einpünktigkeit. Dies wird in allen Yogarichtungen auf verschiedene Weisen geübt.

3.9. „Es kommt eine Unabhängigkeit vom Kommen und Gehen der Gedankenimpulse und somit eine Kontrolle über den Geist, die Stille mit sich bringt.“ oder „Werden die wechselhaften Eindrücke beherrscht, fügen sich Momente der Ruhe im Geist ein.“

Schrittweise kommt man durch die Praxis des Ashtanga, insbesondere der Samyama-Methoden als 6.-8. Stufe, in eine Kontrolle über die wechselhaften Gedankenwellen (Vritti) und deren Gewohnheiten (Samskara) im Geist (Chitta). Es entsteht mit der Zeit „Nirodha-Parinama“, der stetige Wandel des Geistes hin zur Ruhe, bzw. eine Verlagerung des Fokus auf die zugrundeliegende Stille statt auf die veränderlichen Impulse im Geiste.

3.10. „Durch die wiederholte Übung wird der Übergang zur Ruhe fliessend.“ oder „Die neue Gewohnheit wird ruhig fließen.“

3.11. „Wenn wir uns auf einen Punkt ausrichten und aufhören sprunghaft zu sein, kann die Transformation zu Samadhi geschehen.“ oder „Wenn wir uns weniger ablenken lassen und fähig sind, den Geist auszurichten, kommt der Übergang zu einem höheren Bewusstsein.“

3.12. „Die Einpünktigkeit tritt ein, wenn der Geist beim Kommen und Gehen der Gedankenimpulse in Balance bleibt.“

Wie gesagt kommen und gehen ständig Eindrücke im Geist. Es ist zunächst unsere Gewohnheit, sprunghaft diesen Impulsen zu folgen und die beobachtende Haltung zu verlieren. Wenn wir uns ganz und gar auf das Objekt ausrichten und die aufsteigenden und vergehenden Eindrücke im Geist daran nichts ändern, ist eine Ausgewogenheit des Geistes da und der Nährboden für tiefere Erfahrungen gegeben.

3.13. „Dadurch werden Veränderungen in Form, Zeit und Zustand der Elemente in den Sinnesorganen erklärt.“ oder „Auf diese Weise wird der Wandel der Aufgaben, der Merkmale und der Zustände von Materie innerhalb der Wahrnehmung deutlich.“

Es wird also unsere Wahrnehmung eine andere, wenn wir nicht mehr im Auf- und Ab der Gedankenimpulse feststecken, sondern die Fähigkeit entwickeln, unabhängig von unserem Denken und Fühlen ein Objekt zu betrachten.

3.14. „Eine Instanz ist trotz aller Veränderungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konstant.“ oder „Es gibt eine Essenz, die unabhängig von Vergangenem, Aufkommendem und Undefinierbarem unwandelbar ist.“

Diese eine Instanz ist natürlich das wahre Selbst, welches unberührt ist von allen Veränderungen bzw. von allem, was beobachtet werden kann.

3.15. „Die Naturgesetze sind Ursache für alle Wandlungen.“

Alles, was geschieht, ist Teil der kosmischen Ordnung und folgt den Gesetzmäßigkeiten. Nichts im Kosmos passiert ohne Teil des Ursache-Wirkungskreislaufes zu sein, und es liegen allem die Naturgesetze zugrunde, auch wenn wir es nicht verstehen.

Yoga Sutra 3.16-18 – Subtiles Samyama

Mit diesen Versen beginnt Patanjali nun die Samyama-Techniken im Einzelnen vorzustellen. Kurz gesagt geht es darum, dass man durch Ausrichtung des Geistes bestimmte Fähigkeiten und Erkenntnisse bekommen kann. Es gibt dabei drei verschiedene Stufen, je nachdem, wie tief man praktiziert: Dharana, Dhyana und Samadhi.

3.16. „Sammlung auf die Veränderungen in Form, Zeit und Zustand gibt Wissen über Vergangenheit und Zukunft.“ oder „Mit Versenkung auf die drei Umwandlungen entsteht Wissen über Vergangenes und Künftiges.“

Hier beginnt Patanjali nun also mit den konkreten Samyama-Techniken, also dem Ausrichten des Geistes auf ein Objekt, welches dann je nach Grad der Ausrichtung tiefere Wirkungen entfalten kann. Hier sagt er, dass wir tiefes Wissen über ein Objekt erreichen können, indem wir es beobachten bzw. uns darauf konzentrieren, darüber meditieren oder es im überbewussten Zustand fokussieren – also den drei Stufen von Samyama.

Wenn wir also nicht mehr werten und urteilen, kann intuitives Wissen kommen. Wenn wir nun Samyama auf ein Objekt machen und die drei Umwandlungen wahrnehmen, können wir intuitiv Rückschlüsse aus der Vergangenheit und der Zukunft ziehen. Hiermit ist gemeint, dass wir durch nichtwertende Wahrnehmung mehr erfassen können als durch den persönlich gefärbten Blick.

3.17. „Klang, Objekt und das Konzept über die Betrachtung beeinflussen und vermischen sich beim Betrachter. Durch Samyama auf einzelne Teile kommt die Erkenntnis der Töne aller Wesen.“ oder „Worte, Objekte und Ideen überlagern und verwirren, durch Samyama bekommt man Wissen über die Sprache aller Lebewesen.“

Unser Geist wird also normalerweise getrübt durch die Vermischung von Informationen, die durch die Sinne aufgenommen werden, also Klang, Objekte und Ideen werden durch unseren individuellen Filter verzerrt. Logisch soweit, denn jeder Mensch sieht die Welt mit seinen Augen und interpretiert die Dinge auf seine Weise. Aber, so Patanjali, wir können durch Samyama auf unseren Wahrnehmungsprozess ein objektives Erfassen der Wirklichkeit erreichen und dadurch den Klang anderer Wesen direkt verstehen. Viele spirituelle Traditionen sprechen davon, dass die Welt aus Klang besteht, bzw. dass wir durch ein exaktes Erfassen des Klanges zu einem tieferen Verstehen der subtilen Ebenen kommen können.

3.18. „Durch Wahrnehmung unserer Prägungen entsteht Erkenntnis über frühere Leben.“ oder „Durch die Betrachtung der tiefsitzenden Programmierungen wird man sich früherer Geburten gewahr.“

Wenn wir uns in tiefer Versenkung auf die Ursprünge der Gedankenwellen ausrichten, können wir Erkenntnisse über frühere Leben bekommen.

Yoga Sutra 3.19 – 20 – Siddhis (Superkräfte): Gedanken lesen

In der Mitte des 3. Kapitels seines Yogasutra beginnt der große Raja Yogi Patanjali nun mit der Beschreibung von übersinnlichen Fähigkeiten und mit seiner konkreten Anleitung, wie man diese erreichen kann.

3.19. „Samyama auf den offenbarten Geist eines anderen bringt Wissen über ihn.“ oder „Durch Ausrichtung auf die Gedanken eines anderen entsteht Kenntnis über dessen geistige Verfassung.“

Tatsächlich beschreibt Patanjali hier eine Methode zum Gedankenlesen, allerdings kann auch mit dieser Technik nur der momentane Gemütszustand genauer erfasst werden. Also keine Sorge, ein Yogi kann nicht in deinem Geist lesen wie in einem offenen Buch, aber eben womöglich erkennen, wie es dir in diesem Moment geht. Diese Samyamatechnik ist sehr hilfreich, um seine Mitmenschen besser zu verstehen und friedlicher mit ihnen auszukommen.

3.20. „Über die tatsächliche Natur eines anderen können wir dadurch kein Wissen erlangen, denn sie lässt sich nicht beobachten.“ oder „Andere Aspekte, die nicht Gegenstand dieses Samyama sind, können nicht erkannt werden.“

Yoga Sutra 3.21-23 - Siddhis: Unsichtbarkeit & Karma

3.21. „Durch Samyama auf die Körperform wird man unsichtbar, die Kraft wahrgenommen zu werden wird gehemmt und die Verbindung von Licht und Auge erlischt.“

Also wenn wir uns versenken in die Form unseres eigenen Körpers, werden wir zunehmend unsichtbar.

3.22. „Hierdurch lässt sich das Verschwinden von Klängen und anderem erklären.“

So wird eben Vers 3.21 nicht nur auf das Unsichtbare bezogen, sondern auch auf das Nichtwahrnehmen von anderen physikalischen Phänomenen. Je mehr man sich auf sich selbst konzentriert, desto weniger wird man von anderen wahrgenommen. Im Umkehrschluss: Je mehr unser Geist nach aussen geht, desto mehr Aufmerksamkeit zieht man auf sich.

3.23. „Durch Ausrichtung auf Ursache- und Wirkungsbeziehungen entsteht Wissen über das Schicksal.“ oder „Wirkungen der Handlungen kommen direkt oder verzögert, durch Samyama auf diese wird Kenntnis über das Schicksal erreicht.“

Wenn wir uns genau auf die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung ausrichten, können wir die Wirkweise des Schicksals genauer verstehen. Also wenn wir Samyama auf die Kausalketten hinter unserem Erleben ausrichten, können wir erahnen, wie es weitergeht. Es ergibt sich also aus dem bisherigen Verlauf der Dinge eine Einsicht in die Ereignisse in der Zukunft.

Yoga Sutra 3.24-26 – Siddhis: Liebe, Kraft & Wissen

3.24. „Durch Ausrichtung auf Liebe und andere positive Eigenschaften (siehe YS 1.33) entstehen entsprechende Kräfte.“

Wenn wir uns auf die Liebe im weitesten Sinne konzentrieren, also uns bewusst sind, dass wir über die Liebe mit allem verbunden sind, werden wir Kräfte entwickeln, die uns immer mehr in den Einklang mit der Welt, die uns umgibt, bringen. Es ist die allumfassende und bedingungslose Liebe, die uns zur Einheit führt, und auf dem Weg dorthin kultivieren wir konstruktive Eigenschaften, die unser Wesen transformieren. Sich auf die Liebe auszurichten ist eine entscheidende Praxis auf dem Weg zu Gott.

3.25. „Samyama auf einen Elefanten kultiviert die entsprechende Kraft.“ oder „Durch Meditation auf Kraft entsteht die Stärke eines Elefanten.“

Manche Kommentatoren interpretieren das Wort „Elefant“ nur als Beispiel, also sie sagen, dass man generell die Kräfte der Tiere kultiviert, auf die man Samyama übt. Das klingt für mich sehr plausibel. Wenn ich mich auf eine bestimmte Eigenschaft konzentriere bzw. versenke, kann ich diese in mir entwickeln, und bestimmte Tiere verkörpern jeweils verschiedene Eigenschaften, die wir uns so aneignen können. Wir tragen alles in uns und können aus unserem Potential schöpfen, wenn wir dazu die Türen öffnen.

3.26. „Ausrichtung auf Licht führt zu intuitivem Wissen über Subtiles, Verstecktes oder Entferntes.“ oder „Durch Samyama auf inneres Licht bekommt man Wissen über feines, verborgenes, entferntes.“

Wenn wir die Augen schließen und schauen, so finden wir dort nicht nur Dunkelheit, sondern es erstrahlt von innen ein Licht. Die Ausrichtung auf dieses Licht öffnet unsere Intuition und die feinstoffliche Wahrnehmung. Wir können unser Blickfeld erweitern, indem wir lernen, dieses innere Licht zu stärken.

Yoga Sutra 3.27-29 – Siddhis: Planetenkräfte

3.27. „Samyama auf die Sonne bringt Wissen über die Welt.“ oder „Durch Samyama auf Surya entsteht Verstehen über die feinstofflichen und physischen Existenzebenen.“

3.28. „Durch Samyama auf den Mond entsteht astrologisches / astronomisches Wissen.“

3.29. „Durch Samyama auf den Polarstern entsteht Wissen über die Sternbewegungen.“

Yoga Sutra 3.30-35 – Siddhis: Körperzentren

Bei Patanjalis Aufzählung der übersinnlichen Fähigkeiten im 3. Kapitel des Yogasutras geht es an dieser Stelle um bestimmte Punkte im Körper, die sich für das Samyama eignen. Diese Methoden, sich auf die Körperzentren auszurichten, sind sehr hilfreich, um ein tieferes Verständnis von sich selbst zu erreichen und um aus seinem eigenen Potential zu schöpfen.

3.30. „Samyama auf das Nabelzentrum bringt Wissen über den Aufbau des physischen Körpers.“

Wir können also durch diese Samyama-Übung genauer verstehen, was unser Körper braucht bzw. was ihm fehlt. Auch ist es möglich, den Aufbau des menschlichen Körpers durch diese Übung genauer zu verstehen, also im anatomischen Sinne. Es ist auch möglich, nach etwas Übung das Samyama auf das Manipura-Chakra eines anderen auszurichten und ihm gegebenenfalls zu helfen, körperliche Vorgänge besser zu vestehen. Also insgesamt eine sehr hilfreiche Übung für Heiler, die dadurch ihre Intuition stärken können, um Patienten besser zu verstehen.

3.31. „Samyama auf die Kehlgrube beendet Hunger und Durst.“

3.32. „Samyama auf Kurma Nadi bringt Festigkeit.“

Es gibt unterschiedliche Lehrmeinungen darüber, was sich hinter dem Begriff „Kurma Nadi“ verbirgt. Swami Vishnu-Devananda und Sukadev geben an, es sei ein anderes Wort für die Sushumna Nadi, den Hauptenergiekanal zwischen Beckenboden und Schädeldach entlang der Wirbelsäule.

3.33. „Samyama auf das Licht der Schädeldecke führt zu Visionen der Meister.“ oder „Samyama auf den Scheitel lässt den Meister die Wahrheit schauen.“

Das Kronenchakra (Sahasrara) ist unsere energetische Verbindung zum subtilen, astralen Bereich. Wenn wir durch Konzentration dieses Zentrum stärken, wird unsere feinstoffliche Wahrnehmung für lichtvolle Wesen geöffnet.

3.34. „Samyama auf das Göttliche bringt alles Wissen.“

3.35. „Samyama auf das Herzzentrum bringt Erkenntnis über die Psyche.“

Yoga Sutra 3.36-38 – Konstante Ausrichtung führt zum Ziel

In diesem Abschnitt des Vibhuti Pada im Yogasutra beschreibt Patanjali weitere übersinnliche Fähigkeiten und warnt zugleich davor, ihnen zu viel Aufmerksamkeit zu geben. Nur wenn wir immer weiter üben, zu unterscheiden zwischen wahr und unwahr bzw. Selbst und Nichtselbst, können wir uns sukzessive auf die Freiheit zu bewegen. Besondere Fähigkeiten zu entwickeln ist schön und gut, schmeichelt aber zu sehr dem Ego, welches wir transformieren wollen.

3.36. „Weltliches Vergnügen resultiert aus dem Mangel an Unterscheidung zwischen der Reinheit und dem reinen Bewusstsein. Kenntnis des reinen Bewusstseins kommt durch die Ausrichtung auf die Ziele des höheren statt des niederen Selbst.“

Die Freude, welche in uns durch das Erleben der sinnlichen Welt entsteht, ist nur ein Abbild der bedingungslosen Freude des wahren Selbst. Freude, die wir durch Objekte (also durch uns als Subjekt wahrnehmbares) erleben, ist wie das Licht des Mondes nur eine Reflektion des tatsächlichen, auch wenn die Freude sehr rein zu sein scheint.

3.37. „Aus diesem entsteht intuitives Hören, Fühlen, Sehen, Schmecken und Riechen.“

Wenn wir also nur den Interessen des wahren Selbst folgen und uns somit in die kosmische Ordnung eingliedern, wird sich unsere Wahrnehmung öffnen und alles wird uns zu teil. Wenn wir uns nicht in den Objekten dieser Welt bzw. im weltlichen Vergnügen verlieren, werden wir immer mehr die Fülle des Augenblicks erleben, und unsere Wahrnehmung wird sich ausdehnen.

3.38. „Die wachsenden Fähigkeiten sind störend für das Erreichen des Überbewusstseins.“

Die verschiedenen von Patanjali beschriebenen Siddhis füllen nahezu das ganze 3. Kapitel des Yogasutras, jedoch warnt Patanjali zugleich davor, mit ihnen zu arbeiten. Übersinnliche Fähigkeiten werden im Yoga als großes Hindernis auf dem Weg zur spirituellen Freiheit betrachtet, weil sie zu einer Festigung der Identifikation mit der eigenen Persönlichkeit führen können. Je stärker unsere geistigen Kräfte werden, desto verlockender wird es, sie zu mißbrauchen. Daher betont Patanjali immer wieder die Wichtigkeit von Ethik und Moral. Nur wer reinen Herzens ist, kann das Ziel des Yoga erreichen.

Yoga Sutra 3.39-42 – Siddhis: Astralreisen, Pranavayu & Hören

3.39. „Durch Lockerung der Bindungen der Psyche an den eigenen Körper und über die Energiekanäle kann man in andere Körper eintreten.“

Wir können also mit dieser Methode unseren physischen Körper mit unserem feinstofflichen Körper verlassen und dann sogar in Körper von Anderen eintreten. Dies wiederum bedeutet keineswegs, dass wir dann sozusagen einen fremden Körper kontrollieren können, oder sogar jemand anderes in unseren Körper kommen und ihn kontrollieren kann. Sondern man kann im Körper eines anderen spüren, wo Ungleichgewichte und Blockaden sind, um dann heilerisch aktiv zu sein. Dies sollte aber absolut nur mit der konkreten Einwilligung des anderen geschehen, da es sonst einen massiven Eingriff in die ureigene Privatsphäre darstellt.

3.40. „Meisterung des Udana führt zu Levitation sowie der Fähigkeit, nicht von Wasser, Schlamm, Dornen etc. berührt zu werden.“

Wir unterscheiden im Yoga zwischen den 5 Arten von feinstofflichen Energien in der Aura. Diese haben jeweils unterschiedliche Funktionen. Das „Udana Vayu“ hat seinen Sitz in der Kehle und es steht für Kommunikation, Nerven, Hormonsystem, Schmerzempfinden und Schlaf. Es ist gewissermaßen die Gegenkraft von Prana Vayu, wobei Prana Vayu mit dem Einatmen zusammenhängt und Udana Vayu mit dem Ausatmen.

Wenn diese Kraft z.B. durch bewusstere Kommunikation, Entspannung und Atemkontrolle gemeistert wird, stärkt man sein Energiefeld und wird weniger berührt von der Welt. Man kann sogar die Fähigkeit erlangen, zu levitieren, also zu fliegen und über Wasser zu laufen. So konnte nicht nur Jesus über Wasser laufen, sondern auch Sadanandacharya, der Schüler von Shankara, lief bei Varanasi über den Ganges, als sein Guru ihn rief.

3.41. „Meisterung des Samana lässt Feuer auflodern.“

Samana Vayu ist die Energie hinter dem Verdauungsfeuer, und die Energie sitzt entsprechend in der Nähe des Magens beim Manipura Chakra. Ein gemeistertes inneres Feuer führt zum einen dazu, alles (physisch und psychisch) verdauen zu können, und außerdem zu einer besonderen Ausstrahlung. Ein starkes Manipura bzw. ein besonders starkes inneres Feuer führt zu einem machtvollen Charisma. Man kann dadurch Einfluss auf andere nehmen. Dieses ist natürlich für den Yogi aus ethischen Gründen mit Vorsicht zu genießen. Leider schweigt sich Patanjali darüber aus, wie man das Samana meistert, es wird jedoch im Hatha-Yoga durch Fasten und Diäten sowie entsprechende Asanas und Pranayamas gestärkt.

3.42 „Samyama auf die Beziehung von Raum und Ohr lässt himmliches Gehör entstehen.“

Die 5 Elemente sind in der Samkhya-Philosophie, welche dem Yogasutra zugrunde liegt, jeweils den 5 Sinnen zugeordnet. Das Hören entspricht dem Element des Raumes bzw. dem Äther. Die Meditationsmethode des Unterscheidens von Raum und Geräusch verfeinert den Hörsinn bis zum übersinnlichen Hören. Logisch, dass wir durch das Trainieren des Hörens auch tatsächlich besser hören können, aber es geht dann darum, Dinge zu hören, die dem normalen Hörenden verschlossen bleiben. Dazu braucht es Meditation.

Yoga Sutra 3.43-47 – Siddhis & Mahasiddhis

In diesem Abschnitt des Yogasutras erläutert Patanjali einige der sog. Mahasiddhis, der ganz besonderen übersinnlichen Kräfte. Diese Kräfte werden in verschiedenen Yogatexten genannt, und sie klingen sehr fantastisch, es gibt jedoch immer wieder Geschichten von Yogameistern, die solche Fähigkeiten gehabt haben sollen.

3.43. „Samyama in die Verbindung von Körper und Raum lässt den Yogi leicht werden und durch den Raum reisen.“

In verschiedenen klassischen Yogatexten werden unterschiedliche übernatürliche Kräfte benannt, so z.B.:

5 Hauptsiddhis und 5 Nebensiddhis im Shrimad Bhagavatam

8 Siddhis im Charaka Samhita (ein Ayurveda-Text)

8 Mahasiddhis im Mahabharata

Im Unterschied zu Vers 40, bei dem es um Levitation geht, wird hier die Teleportation beschrieben - das Reisen durch den Raum zu einem anderen Ort. Die Idee hinter diesem Vers ist, ein Erreichen von ultimativer Leichtigkeit im Raum, um dadurch über die scheinbaren Naturgesetze hinauszugehen.

3.44. „Ausführung von Samyama auf unvorstellbare äußere Gedankenwellen führt zur Fähigkeit, außerhalb des physischen Körpers zu verbleiben und die Verhüllung des Lichts aufzulösen.“

Es gibt nicht nur im Yoga, sondern auch im Buddhismus sehr weit fortgeschrittene Mönche, Yogis und Eremiten, welche die Fähigkeit erlangt haben, den Körper dauerhaft zu verlassen (siehe z.B. die „Mumien Mönche„).

3.45. „Durch Samyama auf grobstoffliche Dinge und deren feine Zusammenhänge beherrscht man die Elemente.“

Kurz gesagt: Wenn wir uns auf die Qualitäten der einzelnen Elemente ausrichten und tief darüber meditieren, können wir Meisterschaft über sie erlangen. Ziel des Yoga ist aber, über die Elemente hinaus zu gehen. Mehr dazu im nächsten Vers.

3.46. „Daraus entsteht (beispielsweise) die Kunst, sich unendlich klein zu machen, sowie das Erreichen eines vollkommenen Körpers und Unüberwindbarkeit der Tugend.“

3.47. „Körperliche Vollkommenheit ist anmutiges Aussehen, Kraft und Festigkeit eines Diamanten.“

Dieser Vers nennt weitere Vorteile, die wir durch die Beherrschung der Elemente bekommen. Es gibt viele Geschichten von sagenhaften Yogis, die den physischen Tod verzögert haben. Von manchen heißt es sogar, dass sie Jahrhunderte im selben Körper verweilten. Dazu muss man also wie gesagt die Elemente beherrschen, oder jemanden kennen, der in die Geheimnisse der sagenumwobenen „Kaya Kalpa“-Kur einweiht.

Yoga Sutra 3.48-49 – Siddhis: Die Sinne beherrschen

Wenn die Psyche nicht mehr ständig zwischen Gedanken, Gefühlen und Sinnen hin und her springt, öffnet sich eine neue Dimension des Seins.

3.48. „Meisterung der Sinnesorgane kommt durch Samyama auf den Zusammenhang zwischen der eigenen Form, der Wahrnehmung und Ich-Bewußtsein.“

Meisterung der Sinne bedeutet einerseits, dass wir uns nicht von den Sinneseindrücken ablenken lassen, insbesondere in der Meditation, und andererseits, dass wir die Sinnesorgane besser nutzen können, also unsere Wahrnehmung verfeinern. Bei dieser Anleitung geht es darum, den Prozess des Wahrnehmens genauestens zu beobachten, also:

Eigene Form: Wer nimmt wahr?
Wahrnehmen
: Wie wird wahrgenommen?
Ich-Bezogenheit: Wie reagiert der Geist auf die Wahrnehmung?

3.49. „Dadurch wird der Geist schnell, Erkenntnis geschieht ohne Sinne und man beherrscht die Schöpfung.“

Wir lösen uns also durch die Methode aus Vers 3.48 von der Bindung an unsere Sinnesorgane und bekommen Wissen, ohne wahrnehmen zu müssen, sozusagen unmittelbar. Wenn der Geist sich von den Ketten seiner Wahrnehmungsorgane gelöst hat, wird er fähig, seine höheren Sinne zu nutzen und Erkenntnisse zu gewinnen.

Yoga Sutra 3.50-52 – Entsagung und Freiheit

Patanjali beschreibt in diesem Abschnitt des Vibhuti Pada seines Yogasutras, wie wir durch die Nichtanhaftung zur Freiheit kommen. Er hat bisher schon mehrfach über Vairagya gesprochen, die Losgelöstheit von den Erfahrungen. Hier betont er, dass es auch bei den höchsten spirituellen Erfahrungen entscheidend ist, die Verhaftungen mit dem, was beobachtet werden kann, zu lösen. Um die Einheit zu erkennen, müssen wir das Subjekt von den Objekten lösen.

3.50. „Erkenntnis des Unterschieds zwischen der göttlichen Reinheit und der wahren Seele bringt Herrschaft über alle Existenz und alles Wissen.“

3.51. „Gleichmut sogar gegenüber diesem und die Zerstörung des Keims der Unreinheit führen zur absoluten Glückseligkeit.“

Sogar die Herrschaft über alles Existierende und das vollkommene Wissen sind Hindernisse für die absolute Befreiung, da sie eine Identifikation erzeugen können. Bereits im allerersten Abschnitt des Yoga Sutra warnt Patanjali vor den Fallen auf dem Weg zur Freiheit: 1.4. „In anderen Zuständen ist der Geist mit seinen Bewegungen identifiziert.“

3.52. „Einladungen von himmlischen Wesen bergen die Gefahr des Hochmutes und des Entstehens neuer Verhaftungen.“

Yoga Sutra 3.53-56 – Achtsamkeit und Freiheit

In diesem letzten Abschnitt des 3. Kapitels im Yogasutra führt Patanjali die Idee der Achtsamkeit als wichtigen Schlüssel zur Freiheit ein. Er sagt, dass wir durch das Meditieren über den Fluss des Augenblicks zu Unterscheidungskraft und höherem Wissen kommen, und dass diese Erkenntnis frei macht. Im letzten Vers gibt er einen kleinen Vorgeschmack auf das vierte Kapitel, indem er über „Kaivalya“ spricht, was der Titel des letzten Kapitels ist. Kaivalya kommt durch die Läuterung des Geistes, also Achtsamkeit und Reinigung sind die beiden Schlüsselbegriffe dieses Abschnitts.

3.53. „Durch Samyama auf die Abfolge der Momente erreicht man Wissen, das auf Unterscheidung basiert.“

Also zunächst mal geht es bei diesem Vers ganz profan darum, dass man sich in jedem Augenblick bewusst sein soll, was man tut, um kein Leiden zu kreieren. Jedoch denke ich, dass Patanjali mit diesem Vers die heute so moderne Idee der Achtsamkeit formuliert: jeden Moment so bewusst zu sein, dass man den jeweils folgenden Moment voll erfassen kann. Im Englischen wird hierfür das Wort „Mindfulness“ verwendet, was auf die Fülle jedes einzelnen Augenblicks hinweist.

3.54. „Daraus entsteht Einsicht in Gleichartiges auch ohne Unterschied von Art, Merkmal und Ort.“

Also durch das Training von Achtsamkeit bzw. das Beobachten der Abfolge der Momente wird unsere Unterscheidungskraft sehr genau. Logisch: Je genauer wir hinschauen, desto mehr erkennen wir. Je bewusster wir sind, desto klarer erfassen wir die Wirklichkeit.

3.55. „Wissen durch Unterscheidung transzendiert alle Objekte, auf alle Weisen und zu allen Zeiten.“ oder „Dieses Wissen aus Unterscheidung ist spontan da, ohne Abfolge, und bezieht sich immer auf alle Objekte.“

Patanjali sagt, dass Wissen aus Unterscheidung die Welt der Objekte übersteigt, also das Wissen sozusagen höher einzuschätzen ist als die Erfahrung. Das ist sehr vedantisch und macht insofern Sinn, als dass unser Bewusstsein alles umfasst und durchdringt. Des Weiteren beschreibt er aber auch in der zweiten möglichen Übersetzung, dass dieses Wissen einfach geschieht und auf alles anzuwenden ist.

3.56. „Wenn durch Läuterung Sattwa und Purusha identisch geworden sind, kommt absolute Freiheit.“

Übersetzung und Kommentare von Narada: www.vedanta-yoga.de